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Europäische Tibet-Proteste stärken Chinas Regierung
In Paris ist die olympische Flamme erloschen. Bei einer Meinungsumfrage in Corriere della Sera fanden 85% der Befragten das in Ordnung. In La Stampa waren 87% für einen Boykott der Spiele. Führende Meinungsmacher und Politiker Europas unterstützen die Tibet-Kampagne. Im Kern geht es dabei um die ethnische Abwehr von Einwanderung und Modernisierungsdruck, also die Verhinderung ebenjener “Freiheit des Personen- und Warenverkehrs”, die etwa für die Europäische Union konstituierend ist. Während zu Hause selbst Wörter wie “Überfremdung” längst politisch inkorrekt sind, will man in Tibet eine idyllische Hochkultur museal konservieren. Wenn die Chinesen eine Eisenbahn nach Lhasa bauen, wenn dort Wanderarbeiter aus anderen Provinzen Geld verdienen, wenn tibetische Yak-Milch im Vergleich zu Tiefland-Kuhmilch ins Hintertreffen gerät, dann ist das “ethnische Aggression” oder gar “kultureller Genozid”. Über die pogrom-artigen Gewalttätigkeiten, mit denen ein von Mönchen angeführter Mob darauf reagiert, wird hier wenig berichtet. “Wenn es so etwas gegeben haben sollte, dann liegt das an zu langer Unterdrückung, und unsere Sympathie muss den Unterdrückten gelten”, meint man wohl. Allerdings wird dieses Denken schnell zirkulär. Es führt nicht nur zur Ausblendung von Informationen sondern es beruht auch auf jahrzehntelang betriebener Ausblendung der Wirklichkeit im heutigen Tibet.
In China schart sich die öffentliche Meinung indes um die Regierung. Beeinflussung durch Regierungspropaganda spielt dabei wohl nur eine untergeordnete Rolle. Ein paar Veteranen der Demokratiebewegung von 1989, die Verständnis für das tibetische Aufbegehren zeigen, manövrieren sich immer weiter ins politische Aus. Sicherlich haben sie in vielen Punkten Recht, doch in wesentlichen Fragen haben sie keine Antworten zu bieten. Das Volk hat wenig Lust auf spätjugoslawische Zustände. Unterstützt wird, wer dem Land glaubhafte Aussichten auf stabile und friedliche Entwicklung bietet. Diesbezüglich erscheint die Regierung jetzt konkurrenzloser denn je.
2 Mögliche Einigung?
Andererseits haben die Aufstände gezeigt, dass das Tibet-Problem eskalieren könnte und jedenfalls nicht allzu schnell von selbst verschwindet. Deshalb hat der Dalai Lama als Gesprächspartner an Wert gewonnen. Es gibt innerhalb Chinas ein paar mehr Stimmen als vorher, die für eine Suche nach einem Kompromiss mit ihm plädieren. Darüber, wie ein tragfähiger Kompromiss aussehen könnte, liest man innerhalb und außerhalb Chinas sehr wenig. Wenn ein Kompromiss nur dazu führt, dass der Konflikt in kurzer Zeit weiter eskaliert, kann China wenig Interesse daran haben. Er müsste bei aller Autonomie schon auch glaubwürdige Aussichten für eine Integration Tibets in China (und nicht etwa für eine schrittweise Abkoppelung) bieten. Themen könnten sein:
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Erfordernisse von Sprachkenntnissen (Tibetisch und Chinesisch) für Schulabschlüsse und Verwaltungsämter in der Region
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Regeln über die Freiheiten des Personen- und Warenverkehrs, die es Tibet und anderen “autonomen Regionen” gestatten, diese Freiheiten in etwas größerem Umfang einzuschränken als dies normalen Provinzen erlaubt ist
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Schaffung einer Art Vatikan-Staat in Lhasa
Ob sich mit solchen Vereinbarungen Vertrauen herstellen lässt, lässt sich schwer vorhersagen. Für die chinesische Seite bleibt ein Risiko des Abgleitens in jugoslawische Zustände, und für die Seite der Tibeter bleibt China ein unzuverlässiger Gesprächspartner, gegenüber dem man sich auch gerade dadurch wird absichern wollen, dass man alle Optionen zum Abgleiten offen hält.
Lektüre
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Mein Parteibuch 2008-04-28: Die Versenkung der modernen Kanonenboote der CIA – spricht von einem grandios verlorenen Propagandakrieg des Westens gegen China; liefert viele interessante Hinweise auf einen von Geheimdiensten gesteuerten “Psyop-Angriff auf China”
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Pankaj Mishra: At war with the utopia of modernity – ein indischer China-Beobachter und Modernisierungs-Theoretiker erklärt im Guardian, welche Interessengegensätze in Tibet derzeit ausgetragen werden
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He May Be a God, but He’s No Politician – Patrick French, ehemaliger Direktor der Internationalen Kampagne für Tibet in London, zeigt in sich in der New York Times desillusioniert: “When Beijing attacks the “Dalai clique,” it is referring to the various groups that make Chinese leaders lose face each time they visit a Western country. The International Campaign for Tibet, based in Washington, is now a more powerful and effective force on global opinion than the Dalai Lama’s outfit in northern India. The European and American pro-Tibet organizations are the tail that wags the dog of the Tibetan government-in-exile. These groups hate criticism almost as much as the Chinese government does. Some use questionable information.”
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Sergio Romano: La protesta tibetana, i monaci e la modernitá – der hochgeachtete Kolumnist der führenden italienischen Tageszeitung weist auf regressive Elemente des tibetischen Protestes hin und schließt seine Analyse mit den Worten: “Non è necessario essere marxisti o anticlericali per osservare che la Cina recita in questa faccenda, sia pure con i modi intolleranti di un regime autoritario, la parte della modernità e che i monaci, come si sarebbe detto una volta, quella della reazione.” (Man muss nicht Marxist oder Antiklerikaler sein, um zu beobachten, dass in dieser Angelegenheit China, wenn auch in autoritärer und intoleranter Weise, auf der Seite der Modernität steht während die Mönche das vertreten, was man einst die Reaktion genannt hätte.)
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Vattimo: Appello contro monaci tibetani – zwei italienische Professoren wenden sich gegen die “von Hollywood und CIA inszenierte” Tibet-Bewegung
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Appello Cina 2008-04-11 – Kopie des Appells von Losurdo et al, der immerhin am ersten Tag 50 Unterschriften von italienischen Gelehrten sammelte
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Non solo Vattimo: “Nella generale mobilitazione a favore dei monaci tibetani e contro la repressione cinese, qualcuno comincia a farsi venire dei dubbi. Si disegna fra gli intellettuali italiani, ancora con contorni sfocati, e molto differenziata ovviamente al suo interno, un’imprevedibile area del no, che va da Gianni Vattimo a Sergio Romano.”
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Interview mit dem Urheber des Appells – die Redaktion hebt Vorwürfe gegen die “parasitäre Mönchskaste” Tibets hervor, zeigt ein Bild welches Nazi-Gesinnung bei einigen Tibet-Fans suggeriert, generiert damit zahlreiche empörte Forumsbeiträge, in denen sich zum Teil die generelle, weit über Nationalitäten- und Menschenrechtsfragen hinausgehende antichinesische Grundstimmung offenbart, die Losurdo u.a. mutmaßen. So schreibt eine Forumsteilnehmerin: “Sono nauseata e sconvolta nel leggere certe esternazioni da parte di uomini di cultura, o presunti tali. La violenza e la dittatura non hanno nessuna giustificazione in nessun paese al mondo,specialmente se chi è vittima di queste torture,è completamente inerme. Me ne frego delle dietrologie, io vedo solo un enorme egoismo di tutti noi, che guardiamo come spettatori questo spettacolo disumano,senza muovere un dito. Mi chiederete cosa dovremmo fare? Innanzitutto evitare tutti di alimentare la cultura cinese nel nostro paese,di boicottare i ristoranti e tutte le loro merci contraffatte, frutto di lavoro nero e minorile e grande fonte di finanziamento per atti terroristici ovunque nel mondo. Tutti potremmo far capire che la dittatura non regge più,ma non solo a parole. I Cinesi non pagano tasse nel nostro paese, e se non ve ne siete accorti, comprano interi quartieri in tutta Italia, in contanti,in nero, quando metà degli Italiani non riesce nemmeno a pagare il mutuo. Aprite gli occhi!”
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Der Westen: Spektakuläre Protestaktion in San Francisco; einer von vielen Leserkommentaren, die ausdrücken, warum China heute so interessant ist: “Es muss doch möglich sein, solch eine blöde Lampe auszublasen, damit den Chinesen endlich ‘ein Licht’ aufgeht! Bei dem Kampf gegen dieses sozialfaschistische System, geht es direkt auch um unsere Arbeitsplätze in Deutschland! Warum machen wir mit dieser Tibetveranstaltung nicht gleich insgesamt einen politischen Grossangriff gegen dieses menschenverachtende System in China?”; demgegenüber schreibt “Wang”:
Hallo Liebe Deutschen, Glauben Sie wirklich alles, was Sie in der Zeitungen und Videos gesehen und gehoert haben ?? China ist ja wirklich so schlimm ?? Ich bin ein Chinese und war auch 5 Jahren in Deutschland und war mindestens 5 Mail in Tibet Gebiet, auch wo in der letzten Zeit Unruhen passierten. Ich bittet Sie nur, bevor Sie China schipfen , ein bisschen Zeit zu nehmen , um China richtig zu kennen. Es ist sicher richtig, dass wir in China nicht so viele Demokatie wie Sie in Deutschland geniessen koennen, aber weiterhin nie so schlecht wie Sie glauben. Die Situationen in China ist seit ca. 15 Jahren wesentlich besser und verbessert sich auch standig. Ich bitte Sie, einmal nach Tibet zu reisen und Tibet mit eignen Augen zu kennen und direkten Kontakt mit Tibetischen Leuten zu nehmen. Olympia Spiel ist von den meisten normalen Chinesen auch stark erwartet. Bitte versuchen Sie nie den Wunsche und Erwartungen von den normal Chinesen zu zerstoeren. Es macht nur mehr Missverstandnissen zwischen uns.
Und Hartmut Pilch:
Mit dem Ende des Kommunismus in der Sowjetunion und Jugoslawien gingen massive Vertreibungen, ethnische Säuberungen und Bürgerkriege einher. Die Tibetkampagne um den Dalai Lama will ein ethnisch und religiös homogenes Tibet und klagt hauptsächlich gegen “Überfremdung” mit Waren und Menschen aus anderen Teilen Chinas. Die Proteste waren offenbar von langer Hand für Olympia geplant und gingen mit ziemlich derber Menschenjagd los. Warum so etwas hier im Westen noch immer so enthusiastische Unterstützung hervorrufen kann, nachdem man in Europa selbst sich die “Freiheit des Personen- und Warenverkehrs” zum obersten Gebot gemacht und erst dieses Jahr im Kosovo erlebt hat, wohin noch relativ überschaubare ethnische Konflikte führen, ist mir ein Rätsel. Ist Tibet das Surrogat wo wir die mitellalterlich-nationale Romantik noch einmal richtig erleben dürfen, die bei uns zu hause schon verpönt ist? Oder geht es darum, den Angstgegner China, der mit uns weltweit um Resourcen (Energie, Industrieansiedlung etc) konkurriert, noch beizeiten zu destabilisieren? Und wenn letzteres, wird der Erfolg eher gegenteilig sein: die Leute scharen sich um das Regime, das noch am ehesten Aussicht auf Stabilität und Prosperität gewährt. Auf das von den westlichen Freunden propagierte Jugoslawien-Szenario haben sie keine Lust.
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Domenico Losurdo: Polemica Tibet I – der Autor des Appells, ein langjähriger Tibet-Beobachter und Kritiker der westlichen Tibet-Romantik (und davon getrübter einseitiger Wahrnehmung), erklärt seine Beweggründe
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Andy Newman: China and the Riddle of Tibet – ein interessanter Text eines offenbar recht sachkundigen Autors aus der britischen linken Szene
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alt-china: Western Media got it all wrong – englischsprachige Texte eines anonymen chinesischen Bloggers
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Anti-CNN.com
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Eirik Grankkvist: The Riots in Lhasa
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Tibet Uprising and US Government Grants
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The Guardian / Peter Preston 2008-03-31:Playing the boycott game – Im Forum findet sich folgender Kommentar, der wohl eine weit verbreitete Stimmung wiedergibt: “The riot in Tibet this time at least makes one thing clear: We Chinese people are now more conscious of the hypocrasy of you westerners. You often claim that you strive for democracy, but your evil intention this time has made everything clear.”
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Undercover in Tibet – ein Film, den man mit Vorsicht genießen sollte –- einige Aussagen legen den Verdacht auf wilde Greuelpropaganda nahe. Solche kann gedeihen, weil an glaubwürdige Information über Tibet schwer heranzukommen ist.
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de.wikipedia: Tibet
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en.wikipedia: Tibet
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zh.wikipedia: 西藏問題 – Inhalt ganz anders, konzentriert sich vor allem auf Widerlegung von Behauptungen der Unabhängigkeitsbewegung, zitiert aber auch unabhängigkeitsfreundliche Quellen und Kommentatoren
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Melvyn Goldstein: Reflections on the Tibet Question
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抗議中共在西藏的軍事鎮壓 – die Föderation für ein demokratisches China (FDC) hält den Tibetern die Stange, weist darauf hin, dass die Berichte über Gewalttätigkeit der Demonstrationen sehr wohl getürkt sein könnten; aus dem Artikel geht aber auch hervor, dass die FDC Mühe hat, ihre Linie gegenüber ihrer potentiellen Unterstützergemeinde (chinesischen Studenten in Deutschland) zu rechtfertigen
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Tibetan to English Translation Tool
3 Vergangenheit
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dat: 2007-11-13; prs: phm: PILCH Hartmut richtet dieses Verzeichnis ein.
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