Beschneidungsurteil: Sieg des Humanismus

Ausdehnung des Staates zu Lasten der Religionen

Die Entscheidung bringt ein einer heiklen Stelle einen Durchbruch zur Diskussion der Frage, wann genau der Moment gekommen ist, an dem staatliches Recht religiöse Riten unterbinden muss.

Einerseits wird es immer wichtiger, die Individuen und insbesondere Kinder vor dem Gruppenzwang aggressiver Religionsgemeinschaften zu schützen und die “Religionsfreiheit”, wie etwa Karl-Albrecht Schachtschneider argumentiert, auf die indivuelle Bekenntnisfreiheit zurückzustutzen. Die Vorstellung von pluralistischer Arbeitsteilung zwischen Staat und Religionen wird besonders durch das Vordringen des Islam aber auch durch das Schwächeln der herkömmlichen Konfessionen in Frage gestellt. Das Kölner Urteil scheint dieser Situation Rechnung zu tragen, was gerade auch durch die Proteste bestätigt wird. Dem Urteil ging eine langjährige fachjuristische Debatte voraus. Das Gericht selber sieht seine Entscheidung als Anstoß für eine breite Diskussion:

Sie steht stellvertretend für eine Neupositionierung in der Frage, wie es um die Rolle, den Einfluss und die Rechte der Religionsgemeinschaften bestellt ist. Sie berührt die Frage, wie viel Toleranz und Freiraum wir uns gegenseitig geben. Sie steht aber auch für die Frage, die uns in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Islam immer wieder beschäftigt hat, wann genau der Moment gekommen ist, an dem staatliches Recht religiöse Riten unterbinden muss.

Andererseits wird im Zusammenhang mit Abtreibung doch so abgestuft vom Menschen als einem Wesen gesprochen, dass erst langsam durch Sozialisierung seine Identität gewinnt und daher vor der Geburt sogar von den Eltern getötet werden darf. Hin und wieder folgern auch mal ein paar Ethik-Experten logisch einwandfrei, dass die Kindstötung auch kurz nach der Geburt unter ungefähr ebendiesen besonderen Umständen erlaubt sein müsse. Nun auf einmal ab dem Zeitpunkt der Geburt in dem Kind an eine sakrosankte Persönlichkeit sehen zu wollen, der die Eltern kein Härchen krümmen dürfen, will hierzu nicht so recht passen. Somit lässt sich die jüdische Beschneidung von Neugeborenen noch eher rechtfertigen als der islamische Initiations-Marter-Ritus an Knaben kurz vor der Pubertät.

Hierin zeigt sich auch, dass der säkulare Staat dann, wenn er den Handlunsspielraum der Religionsgemeinschaften eingrenzen und die Religionsfreiheit auf die individuelle Bekenntnisfreiheit reduzieren möchte, immer stärker ein eigenes Weltbild als Ersatzreligion anbieten muss. Diese Ersatzreligion ist in diesem Fall noch ein aus den Menschenrechten und ähnlichen Rechtsgrundsätzen zusammengeschustertes und im Vergleich zum katholischen Katechismus recht lückenhaft und unausgegoren anmutendes Lehrsystem.

Graduelles Zurückweichen der Elternrechte

Hier besteht keine Frage der Religionsfreiheit sondern der Religionsausübung. Das Urteil beinträchtigt niemands Freiheit, sich zu irgend einer Religion zu bekennen. Die Ausübung wiederum muss immer im Rahmen der Gesetze bleiben. Man sollte unabhängig von irgendwelchen Religionen der Frage nachgehen, wie weit der Grundsatz der körperlichen Unversehrtheit und wie weit die Rechte der Eltern gehen sollten.

Wenn man den Eltern jegliche körperliche Züchtigung verbietet, ist die Sache klar. Ich bin aber nicht unbedingt von einem so weitgehenden Verbot überzeugt. Wenn man einen Fötus und u.U. ein Kind kurz vor der Geburt noch töten darf und dabei als Argument angeführt wird, es sei “ein Zellhaufen” und noch keine voll entwickelte Persönlichkeit, dann liegt es nahe, Eltern auch gegenüber Kindern stärkere Eingriffsrechte zuzugestehen, die mit fortschreitendem Alter graduell zurückweichen.

Die seit den 70er Jahren eingeführten Züchtigungsverbote sind einerseits dem Zeitgeist geschuldet und andererseits pragmatisch motiviert. Man will damit den häufigen Fällen fauler oder unfähiger Eltern beikommen, die sich die Auseinandersetzung mit ihren Kindern zu leicht machen. Die anderen Fälle, in denen wohldosierte regelbasierte Gewalt ein probates Mittel der Erziehung sein kann (wie etwa ein paar vielbeachtete chinesische Bücher von “Tigermutter” und “Wolfsvater”), fallen unter den Tisch.

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© 2006-02-19 Hartmut PILCH